E-Mobilität: Was, wenn es anders gekommen wäre?
Nehmen wir an, im Jahr 1910 hätten sich Elektroautos gegen Benziner durchgesetzt: Wie wäre heute die Vorstellung, mit 50 Litern Treibstoff im Tank durch die Gegend zu fahren? Würden Sie jemals dorthin zurück wollen? Diese provokante Frage stellte Professor Nicola Armaroli, Forschungsdirektor an der staatlichen Wissenschaftsbehörde Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR) und Mitglied der italienischen Accademia Nazionale delle Scienze zum Auftakt des Events „E-Mobility: Frag den Experten“ von Alperia.
Elektromobilität bleibt von Zweifeln und Verunsicherung behaftet. Vor diesem Hintergrund bot das Sensibilisierungsevent die Gelegenheit, ein hochaktuelles Thema, das Alperia sehr am Herzen liegt, zu vertiefen und Raum für Fragen der Teilnehmer. Rund um die sogenannten „Sliding Doors“-Momente, aktuelle Trends und Mythen, die zur Elektromobilität kursieren, entwickelte sich eine konstruktive Diskussion.
Eine Vergangenheit mit dem Potenzial, die Zukunft zu verändern
Professor Armaroli wies das Publikum auf einen oft vernachlässigten Aspekt hin: Elektroautos sind keine Erfindung der Neuzeit. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Vorläufer der heutigen Lithium-Ionen-Batterien zum Einsatz: schwere Bleiakkus. Doch die Expansion der Erdölindustrie verdränge die Konkurrenz und machte das fossile System zur dominierenden Antriebstechnologie.
Heute wendet sich das Blatt: Angesichts des Klimawandels gewinnen batteriebetriebene Fahrzeuge wieder an Bedeutung. In einer Zeit, in der die Klimastabilität nicht mehr gegeben ist, erscheint das Elektroauto als die nachhaltigste Option. Tatsächlich gehen laut Schätzungen bei traditionellen Verbrennungsmotoren bis zu zwei Drittel der eingesetzten Energie verloren, wie Armaroli betont: „Wir verbrennen zu viel.“ CO₂-Emissionen bleiben über Jahrhunderte stabil in der Atmosphäre. Armaroli fordert eine langfristige Perspektive: „Wer behauptet, dass es nicht an uns liegt, Emissionen zu reduzieren, leugnet unsere historische Verantwortung.“
Das Verkehrssystem neu denken
Das heutige Verkehrssystem muss überdacht werden – und dabei, so Armaroli, nicht nur ökologische, sondern auch soziale und geopolitische Nachhaltigkeit mitgedacht werden. Angesichts der Dringlichkeit ist eine schnelle Reaktion unter Einsatz der besten verfügbaren Technologie erforderlich. Elektroantriebe bieten dabei eine effiziente und wirtschaftlich wettbewerbsfähige Lösung. Schließlich umspannt das Stromnetz bereits heute den gesamten Globus!
Doch eine zentrale Frage bleibt: Wie lässt sich der steigende Energiebedarf nachhaltig decken? Daten geben Anlass zur Hoffnung: Die Stromerzeugung wird immer grüner. 2023 stammten über 40 Prozent des in Europa produzierten Stroms aus erneuerbaren Quellen. Ein positives Signal, doch die Zeit drängt und die Herausforderungen einer vollständigen Energiewende – insbesondere im Mobilitätssektor – sind erheblich. So gibt es immer noch viele offene Fragen und Vorurteile, die es auszuräumen gilt, wie zum Beispiel die Angst vor der Verfügbarkeit von Lithium für die Batterieproduktion. Armaroli beruhigt: Dieses Thema sei kein unmittelbares Problem, werde jedoch mittel- bis langfristig an Bedeutung gewinnen.
Die Zukunft des Elektroautos
„Im Gegensatz zum Verbrennungsmotor stehen wir beim Elektroantrieb erst am Anfang“, erklärt Armaroli. Die aktuelle Phase bietet großen Spielraum für technologische Fortschritte: Bereits jetzt gibt es innovative Ansätze, Batterien leichter zerlegbar zu gestalten und Recyclingprozesse zu optimieren. Grundlage für den Fortschritt, so Armaroli, ist ein Grundprinzip: „Das Batterieauto ist nicht bloß ein anderes Auto – es ist etwas völlig Anderes!“
E-Fahrzeuge sind nicht einfach herkömmliche Autos mit einem Elektromotor; sie markieren den Beginn einer umfassenden Transformation des gesamten Energiesystems. Ein Beispiel für diesen Wandel ist Vehicle to Grid (V2G), ein System, das Elektrofahrzeuge mit dem Stromnetz interagieren lässt und sie zu mobilen Batterien macht: Wenn die Autos nicht in Gebrauch sind, können sie Energie speichern und bei Nachfragespitzen wieder ins Netz einspeisen. So tragen sie zur Netzstabilität bei und werden Teil intelligenter Stromnetze (Smart Grids).
Für Skeptiker, die Elektromobilität als von außen auferlegt empfinden, hat Nicola Armaroli eine klare Antwort: „Der Batterieantrieb wird uns nicht von Brüssel oder China aufgezwungen, sondern von der Thermodynamik – und vom gesunden Menschenverstand!“
Nicola Armaroli
Nicola Armaroli wurde am 2. September 1966 in Bentivoglio (BO) geboren. Der studierte Chemiker ist Forschungsdirektor am Consiglio Nazionale delle Richerche (CNR) und Mitglied der italienischen Accademia Nazionale delle Scienze. Er ist gewähltes Mitglied des Vorstands der European Chemical Society (EuChemS) und Direktor von Sapere, der ältesten italienischen Wissenszeitschrift, die 1935 gegründet wurde. Armaroli ist Autor von über 220 wissenschaftlichen Artikeln und 11 Büchern zum Thema Energie. Neben seiner Leidenschaft für die Wissensvermittlung berät er internationale Institutionen, Unternehmen und die italienische Regierung (2021–2022). Armaroli ist Träger zahlreicher Auszeichnungen, unter anderem hat er den internationalen Grammaticakis-Neumann-Preis in Photochemie erhalten. Er gehört zu den 100.000 weltweit am häufigsten zitierten Wissenschaftlern aller Disziplinen.